„Der Chinese“ ist, was zu meiner Jugend noch „der Russe“ war. Dieser stand schon immer direkt vor der Haustür, die Klinke in der Hand. Heute ist die Sowjetunion pleite und als Feindbild nicht mehr wirklich zu gebrauchen. Also schauen wir jetzt noch weiter gen Osten und haben die „gelbe Gefahr“ heraufbeschworen. Grund genug, sich das Ganze mal genauer anzugucken, denn wie sagte schon Alexander von Humboldt: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, die die Welt nie angeschaut haben.“
Bei Schnäppchenflügen von 500 Euro nach Peking und zurück von Shanghai musste ich dann einfach mal zugreifen. Man mag ja von Firmen und Netzwerken wie Facebook halten was man möchte, doch nur 10 Minuten nach dortiger Bekanntgabe meiner Buchung hatte ich schon zwei Mitteilungen von alten Freunden, die nun in beiden genannten Städten für große deutsche Unternehmen tätig sind und mir dort Hilfe und Unterkunft anboten. Viel besser kann es kaum laufen.
Man muss vielleicht dazu sagen, dass ich diese Reise ein wenig nutzen wollte, um nach einem miserablen Jahr zuhause ein wenig den Kopf frei zu bekommen und einigen Problemen in Deutschland davon zu laufen oder zumindest Distanz zu ihnen zu gewinnen. Eines vorweg: Um den Kopf frei zu kriegen ist China das falsche Land habe ich merken müssen. Dazu ist es viel zu anstrengend, schnell und vor allem eines: Voll. In China muss man sich von vielen europäischen Vorstellungen frei machen, sonst wird man über kurz oder lang verrückt. Das Tempo im Reich der Mitte ist nicht nur atemberaubend, sondern schlicht unglaublich. Hier wird nicht ein Hochhaus gebaut – hier zieht man gleich Dutzende auf einmal hoch oder gar ganze Städte in einem Rutsch. 1,4 Milliarden Menschen wollen versorgt und untergebracht sein. Überall stehen Baukräne, sind Löcher ausgehoben oder werden Straßen und Brücken verlegt. Mit dieser Geschwindigkeit muss man als jemand, der aus dem dann doch eher beschaulichen Deutschland kommt erst mal klar kommen. Sage und schreibe 166 Städte mit mehr als einer Millionen Einwohnern gibt es in China, das spricht eine deutliche Sprache (auch wenn’s Chinesisch ist. Aber für jemanden, der Deutsch, nachgewiesen eine der schwersten Sprachen der Welt, fließend spricht natürlich ein Klacks). Dabei dürften die wenigsten schon von Städten wie Chongqing oder Chengdu gehört haben und das obwohl sie gemeinsam haben, jeweils eine gute Millionen mehr Einwohner als Berlin zu beherbergen. Im Großraum Chongqing leben nach Schätzungen gar sagenhafte 32 Millionen.
Aber genau das ist auch das faszinierende und macht dieses Riesenreich so spannend, unberechenbar. Wenn ich in zwei Jahren an die selben Orte zurückkehren sollte, würde ich wohl kaum etwas wiedererkennen. Also allerhöchste Zeit, wenn ich noch etwas vom alten China sehen und erleben möchte – um es vorweg zu nehmen: Es lohnt sich.
Die Zeit in Peking wurde genutzt für extremes Sightseeing. Verbotene Stadt, Sommerpalast, Platz des himmlischen Friedens (dem größten asphaltierten Platz der Welt, wo 1989 der letzte bekannte große Aufstand des chinesischen Volkes mit bis zu 3.000 Toten blutig niedergeschlagen wurde) oder einem Ausflug zur großen Mauer. Für Sehenswürdigkeiten wie das Museum für rotes Sandelholz oder das Wassermelonenmuseum (die beiden gibt es wirklich) war leider keine Zeit mehr, doch mindestens ebenso interessant sind die alltäglichen Geschehnisse. Der Straßenverkehr beispielsweise. Durch Trips nach Südamerika oder Afrika bin ich in der Hinsicht eigentlich einiges gewöhnt – China hingegen toppt alles. Zum Glück wird die Ausgabe von Nummernschildern hier stark reglementiert. Das heißt, nicht jeder, der gerne möchte darf am Ende auch Auto fahren. Auch so ist China schon trauriger Spitzenreiter der jährlichen Toten im Straßenverkehr Statistik. Klar, kann man jetzt sagen: Dort leben ja auch die meisten Menschen. Aber: Es haben auch viel weniger ein Auto als in Europa. Und wenn man sich mal eine Viertelstunde an eine beliebige Kreuzung stellt, dann fragt man sich wieso hier überhaupt noch jemand auf die Straße geht. Ampeln, Verkehrszeichen und auch auf der Kreuzung positionierte Verkehrspolizisten sind allenfalls eine Empfehlung. Genauso wie die Fahrtrichtung oder die Beschränkung nur auf der Straße zu fahren. Lediglich Geschwindigkeitsbegrenzungen werden (zwangsweise) eingehalten. Das Recht des Stärkeren in Reinkultur – was aber auch die zahlreichen Roller- oder Fahrradfahrer nicht davon abhält sich für unbesiegbar zu halten und von Zeit zu Zeit mal mitten auf der Straße zu wenden und verkehrt herum in den Verkehr einzutauchen. Ein besonderes Schmankerl konnte ich an einem Pekinger Kreisverkehr beobachten, als ein Hummer, zur Stretchlimo umgebaut, verkehrt herum in den dreispurigen Gegenverkehr einbog und in Schlangenlinien zu seiner Ausfahrt fuhr. Die in korrekter Richtung bedeutend näher gewesen wäre. It’s about sending a message!
Gut zusammenfassen kann man das Fahrverhalten hier vielleicht als mit verbundenen Augen fahrende, zugekokste Fahranfänger. Aggressiv, blind und vollkommen verunsichert. Wer eine Stunde Rushhour überlebt, dem gehört eigentlich eine Urkunde verliehen. Es ist verrückt: Das asiatische Essen ist durch die Bank weg äußerst gesund – und dann wird man auf dem Rückweg vom Restaurant entweder vom Auto überfahren oder der allgegenwärtige Smog rafft einen irgendwann dahin. Letzterer verkürzt die Zeit bis zum Ableben eines Chinesen derzeit künstlich um 5,5 Jahre. Auch eine Art der Überbevölkerung Herr zu werden, wo die Einkindpolitik scheinbar nicht ausreichend war. Aber wie heißt es doch schon in Lethal Weapon so schön? „3 Tote Chinesen? Es gibt Milliarden davon wo die her kommen!“
Auch sonst sind die Chinesen immer wieder für einige Kuriositäten gut. Am ersten Tag in Peking landete ich im Museum, welches an den Resten der alten Stadtmauer errichtet ist. Als einziger Besucher (sowas kommt in China SEHR selten vor) betrat ich die Halle und wurde Zeuge, wie der Wachmann dort auf einem Ausstellungstisch ausgestreckt lag und fleißig vor sich hinschnarchte. Vielleicht aus diesem Grunde werden normal alle möglichen und unmöglichen Posten doppelt und dreifach vergeben. Überall schaut jemand demjenigen, der einen gerade kassiert, bedient oder kontrolliert über die Schulter um sicher zu gehen, dass auch alles mit rechten Dingen vor sich geht. Und dann noch mal einer, der schaut ob der Kontrolleur richtig schaut. Arbeitsbeschaffung wie früher in der DDR – das Volk muss ja abgelenkt werden.
Auch sonst finden sich (leider) viele Parallelen zur ehemaligen Ostzone: Die Überwachung und der Staatsapparat sind omnipräsent. Es fängt bei der Visaerteilung an, wo man über Eltern, Geschwister, Arbeitgeber und, und, und Auskunft geben, sowie einen genauen Reiseplan inklusive vorgebuchter Hotels vorweisen muss. Weiter geht es bei der Einreise nach einem „So muss ich mich in China verhalten“ Video bei der Landung im Flugzeug über Wärmescanner bei der Passkontrolle, Internetsperren, Überwachungskameras an jeder erdenklichen Ecke des alltäglichen Lebens, bis hin zu Gepäckscannern in jeder Ubahnstation oder vielen Unterführungen. Zum Glück wird die Gefahr von Terroranschlägen durch Separatisten der deutschsprachigen Minderheit allem Anschein nach als nicht sonderlich hoch angesehen und bei Langnasen wird eh nicht so genau hingeschaut. So kann man als Tourist häufig ungestraft diese Posten einfach umgehen. Ändert aber nichts an ihrer Existenz. Für einen erwiesenen Menschen- und Bullenfreund wie mich natürlich immer wieder eine harte Prüfung.
Aber wenn wir ehrlich sind: Ich war mir dessen bewusst als ich gebucht habe, sollte nun also nicht rumheulen, erschreckend ist das Ausmaß dann trotzdem. Die Zeiten der ausgestreckten Zeigefinger des Westens sind dennoch vorbei. Vor allem nachdem sich in den letzten Monaten immer weiter gezeigt hat wie allumfassend die hach so freien und demokratischen Regierungen der USA, Englands und anderer Kandidaten ihre eigene Bevölkerung und ganze „befreundete“ Länder überwachen und ausspionieren. Demokratie ist gegenwärtig nur noch eine billige Illusion für Wohlstandsbetäubte oder um ein Zitat aus Ghostbusters anzubringen: „Ich bin weit über die Fähigkeit rationalen Denkens hinaus entsetzt“
Außerdem bergen die Kameras noch ganz andere Gefahren als die Kontrolle der Bevölkerung: Sie sind definitiv auf asiatische Körpergrößen ausgelegt, mir ist es in acht Tagen Peking gleich zweimal gelungen meinen wertvollen Kopf mit einer tief hängenden Sicherheitskamera kollidieren zu lassen. Mit meinem Kopf als deutlichem Verlierer. Dennoch muss man mit einem weit verbreiteten Vorurteil aufräumen: Chinesen sind mit Nichten alle abgebrochene Zwerge. Der Durchschnittschinese wächst rein statistisch im Jahr um einen Millimeter. Bessere medizinische Versorgung und ausreichend Essen machen es möglich, dass einem heute durchaus zwei Meter große Einheimische begegnen. Trotzdem kann man als 1,90 Meter Europäer in der Ubahn meist noch von einem Ende zum anderen durchgucken.
Wo wir gerade bei Vorurteilen sind: Chinesen sehen natürlich auch nicht alle gleich aus. Im Gegensatz: Für ein totalitäres Regime gibt es sogar recht viele Subkulturen oder zumindest Ansätze davon. Punks, Gothics, Skater und vieles anderes begegnet einem auf den Straßen der großen Metropolen. Wobei man in vielem die Einschränkung „die Generation der Unter-40jährigen“ machen muss. Die Opfer von Mao’s Kulturrevolution laufen wirklich sehr uniform rum, legen auch genau das schlechte Verhalten an den Tag, das den Chinesen gerne gesamtheitlich nachgesagt wird. Anderen ins Gesicht husten oder niesen, in der Öffentlichkeit in der Nase bohren oder im Restaurant am Tisch nebenan ohne Probleme ein Pupskonzert der ersten Güte abliefern während eine Zichte nach der anderen gepafft wird, da kennt man wenig. Die Jüngeren hingegen unterscheiden sich in Aussehen und Verhalten wenig von Gleichaltrigen in Madrid, Paris oder Hamburg. Vielmehr ist der angeblich so unfreundliche Chinese, so denn er erst mal aufgetaut ist, super freundlich und kaum noch zu bremsen. Oft kann man beobachten, wie man als Ausländer länger heimlich angeguckt wird um dann plötzlich von einer ganzen Traube junger Frauen umringt zu sein die ein Foto mit einem machen wollen. Version 2.0 sieht dann so aus, dass eine Frau einem ihr Baby in den Arm drückt und eben dies fotografiert. Zu viel mehr kommt es aber dank Sprachbarriere dann leider nicht, auch wenn ein paar Fetzen Englisch stets bekannt sind. Noch deutlicher als das zeigen aber die Klamotten, dass Angst, Argwohn oder gar Abneigung meist nur sehr einseitig gelebt werden. Viele Kids und junge Erwachsene laufen mit westlichen Sporttrikots, „Italia“ Pullovern, nachgemachten Jacken der US Streitkräfte oder T-Shirts mit Unionjack herum. Auch bei uns bekannte Marken von Adidas, Nike über New Balance bis hin zu The North Face sind im Stadtbild allgegenwärtig. Der Kapitalismus hat China längst überrannt und sich in Form von riesigen Shoppingmalls im US-Stil manifestiert. Auch dieser Wiedererkennungswert trägt, trotz aller Fremdartigkeit, dazu bei, dass man sich schnell wohl und sicher fühlt. Vor allem aber sicher. Nach vielen Erfahrungen auf meinen Reisen ist es fast eine Erholung mal nicht ständig auf mein Gepäck achten zu müssen. Ohne zu Übertreiben muss ich sagen, dass China eines der wenigen Länder ist in denen ich mich in einer Großstadt bei Nacht ohne Probleme unter die einzige Straßenlaterne der Stadt stellen und mein Kleingeld zählen würde. Ob es an der Zurückhaltung der Einheimischen oder an den drakonischen Strafen für kriminelle Handlungen gegenüber Ausländern liegt mag ich nicht sagen, bin aber bereit zu Ersterem zu tendieren.
Und noch ein letzter Punkt: Zumindest mit der medizinischen Versorgung kann es im Vergleich zu den USA hier so schlecht nicht bestellt sein. Während man bei Uncle Sam ja durchaus auf sehr individuelle Gebisse treffen kann, so kann ich mich nicht daran erinnern auch nur einen einzigen Chinesischen Senioren gesehen zu haben, der nicht mehr alle Zähne im Maul hatte. Manchmal sind es auch die kleinen Dinge.
So, nun aber zum Wesentlichen, denn natürlich hatte Peking auch Fußball zu bieten. Beijing Guo’an – Hangzhou Greentown FC so lautete die von mir angesteuerte Begegnung in der Hauptstadt. Der einzige Pekinger Vertreter in der Chinese Super League hält auch den Dauerkartenrekord mit über 35.000 verkauften Abos. Vielleicht deswegen, vielleicht aus Sicherheitsgründen werden Tickets jeweils nur zwei Wochen im Voraus verkauft, am Spieltag selbst gibt es keine geöffneten Kartenhäuschen. Nicht weiter schlimm, denn rund ums Stadion stehen Schwarzhändler mit dicken Packen Karten und verkaufen diese meist sogar noch unter Normalpreis, so kostete die Haupttribüne 130 RMB, etwa 15 Euro. Dafür gab es dann eine runde Schüssel, das Arbeiterstadion, das Platz für 64.000 Menschen bietet. Also nach europäischen Maßstäben für weniger, die Abstände der Schalensitze sind für größere Menschen Kniescheibenzerstörend. Der Meister von 2009 (die Chinese Super League wurde erst 2003 gegründet und ging aus der „Jia A“ genannten höchsten Spielklasse hervor) belegt aktuell den 3. Tabellenplatz, das klingt jedoch besser als es ist, wenn man betrachtet, dass Vorjahresmeister Guangzhou wieder mit 26 Punkten Vorsprung den Platz an der Sonne hält.
Rund um das Stadion liefen derzeit die Polizeifestspiele von Peking 2013. Metalldetektoren, Gepäckscanner und äußerst penible Körperkontrollen – nur die Zelte fehlten noch, aber wer weiß, vielleicht wird hier das ganze auch gleich an Ort und Stelle erledigt ohne Sichtschutz. Nach einer erneuten Kontrolle am Aufgang zur Tribüne war dann endlich Fußballschauen angesagt und das fing zunächst auch recht vielversprechend an. Auf der Gegengeraden hatte sich eine große Gruppe Supporter positioniert, in der weitläufigen Kurve links von uns je eine im Ober- und eine im Unterrang. Während die Gegengerade zu Beginn noch mit schöner geschlossener Schalparade und einem lauten Wechselgesang zwischen Ober- und Unterrang glänzen konnte, wich die Begeisterung dort leider recht schnell der Tristesse, vielleicht auch wegen des Spielverlaufs denn lange lief man einem 0:1 Rückstand hinterher, wobei Beijing zwischenzeitlich den Spielbetrieb mehr oder weniger einstellte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass egal wo man saß immer ein Ordnungshüter vor einem stand und gaffte. Eine fast lückenlose Reihe ums komplette Spielfeld in der ersten Reihe der Zuschauerränge.
Die beiden restlichen Gruppen hingegen trällerten ein wenig vor sich hin, dank geringerer Gruppenstärken ging das alles aber ziemlich unter im weiten Rund. Grund genug für einige Expats, hauptsächlich Franzosen, permanent zu versuchen eine La Ola zu starten. In jedem normalen Fußballstadion hätte das wohl einige Ordnungsschellen nach sich gezogen, hier durften die Kasper frei ihrer sinnlosen Tätigkeit nachgehen. Höhepunktearm ging die Partie zu Ende, nicht ohne für weitere Lacher zu sorgen: Jeder Zuschauer sammelte artig seinen Müll auf und brachte ihn zu einer der nahegelegenen Mülltonnen an jedem Ausgang. Zuvor aber konnte man sich noch verwundert die Augen reiben: Das Schiedsrichtergespann und die gegnerische Mannschaft wurde mit wenig asiatischer Zurückhaltung verabschiedet: Zwei oder dreidutzend Zuschauer der Tribüne rannten beim Verlassen des Feldes aufs Vordach und bewarfen sie mit allerlei, dessen sie habhaft werden konnten. Frei nach Hausmeister Willy: „Meine Tribüne wurde als Waffe benutzt!“
Ein paar Tage später stand dann abends eine weitere Prüfung in Sachen Menschenliebe an: Eine Nachtzugfahrt von Peking nach Xi’an. China hat mit derzeit rund 100.000 km Streckennetz eines der größten Netze dieser Art weltweit, dazu modernste Züge die bis zu 490 km/h erreichen können und dennoch investiert die Regierung bis 2020 weitere 750 Milliarden Euro in den Ausbau. Es gibt Direktzüge, die die 1,200 km in etwa 4 Stunden meistern – ich wollte mich jedoch dem Rausch der Langsamkeit hingeben und nahm 12 Stunden Fahrtzeit im Schlafwagen hin. Erste Hürde: Ticketkauf, dieser wurde jedoch dank Rumgefuchtel, eines Kalenders und etwas Geduld gemeistert. Die zweite hingegen kostete Nerven: Der Pekinger Westbahnhof ist der größte seiner Art in ganz Asien, bis zu 400.000 Passagiere benutzten in täglich. Die über 500.000 qm sind eine Herausforderung für Beine, Augen und Ohren, das Plumpsen in die Koje danach ein Segen. Ich hatte Glück mit den drei Mitreisenden meiner Kabine in dem 21 Wagen langen Zug, das Licht wurde früh gelöscht und der komische Westler nur kurz beäugt.
Xi’an mit seinen 8 Millionen Chinesen ist eine von 15 Unterprovinzstädten des Landes, war früher Ausgangsort der berühmten Seidenstraße und ist heute hauptsächlich in aller Welt bekannt für seine 1974 gefundenen und bis heute ausgegrabenen etwa 8.000 einzigartigen Terrakottasoldaten. Die Stadt zog mich somit auch nur für wenige Tage und hauptsächlich zum besichtigen dieses UNESCO Weltkulturerbes an, wenngleich die Stadt durchaus noch mehr zu bieten hat.
Das letzte Reiseziel heißt Shanghai. Noch mal 1.300km gen Süden Richtung Chinesisches Meer. Und dann mit einem Transrapid mit 430 km/h in die Stadt hinein. Eine gute Vorbereitung auf das, was kommen möge. Shanghai, zweigrößte Stadt der Welt hinter Mexiko City mit fast 20 Millionen Einwohnern ist der Inbegriff des modernen China und mir zugleich die sympathischste von den bereisten auf meinem Trip. Trotz der unfassbaren Größe (hier kann man bequem 50, 60 Kilometer fahren ohne auch nur einen Meter aus den Hochhausschluchten zu entkommen) ist alles irgendwie übersichtlich, geordnet. Und vor allem gibt es hier im Süden Chinas weniger Smog als hoch im Norden, wo zu dieser Zeit bereits die Kohlekraftwerke angeworfen werden für den kalten Winter. Das Problem hier ist nämlich nicht unbedingt der Verkehr. In China gelten neueste Richtlinien der EU für Fahrzeuge, innerhalb der Städte sind oft sogar nur Autos und Roller mit Elektromotoren zugelassen, was dank des fehlenden Lärmpegels für weitere Gefahren auf der Straße sorgt. Das Problem ist die Industrie, die mehr oder minder unkontrolliert und ungefiltert in die Luft blasen darf, was sie mag. In Peking hatte ich mehrere Tage Feinstaubwerte, die die in Deutschland geltenden Grenzen um mehr als das 10fache überstiegen, gleichzeitig wurde etwas weiter nördlich in Harbin der Index für Feinstaubbelastung, der bei dem Wert 500 endet, gesprengt. Seit hier jedoch die Kommunistische Partei die Provinzfürsten persönlich für den Zustand der Atemluft in ihren Städten haftbar macht hat sich hier auch schon etwas getan. So wird in solchen Fällen dann einfach mal für Tage die komplette Industrie stillgelegt, Flughäfen geschlossen und Fahrverbote verhängt. Aber all das ist nur ein Herumdoktern an den Symptomen und nicht an den Ursachen.
Aber zurück nach Shanghai, welches man, im Gegensatz zur großen Mauer, tatsächlich aus dem All sehen kann. Die Stadt ist spannend und aufregend aber weniger reich an Kulturgütern als die Hauptstadt. Dafür sind hier alle etwas entspannter und weniger korrekt, Polizei und Überwachung sind etwas weniger offensichtlich. Das machte sich auch bei meinem zweiten Spiel in China, bei Shanghai Shenhua – Changchun Yatai bemerkbar.
Shanghai Shenhua wurde im Jahr 1993 gegründet, wurde nach dem damaligen Sponsor benannt, welcher mittlerweile jedoch ausgestiegen ist. Übersetzt bedeutet der Name soviel wie „Blume von Shanghai“. Bekannt ist man hierzulande wohl durch einige seiner ehemaligen Spieler wie Carsten Jancker, Jörg Albertz, Nicolas Anelka oder Didier Drogba. Letzterer hielt es jedoch nur ein halbes Jahr aus und wechselte im Winter in die Türkei. Aktueller Trainer ist übrigens Sergio Batista, argentinischer Weltmeister von 1986.
Ansonsten waren die Meldungen in der letzten Zeit alles andere als positiv. Zum Saisonbeginn musste man mit sechs Minuspunkten starten und bekam außerdem den Meistertitel aus dem Jahr 2003 aberkannt. Ein Titel weniger, dafür aber sicher AFC Championsleague-Sieger der Herzen, Nieren, Lungen und Lebern. Zusammen mit 10 weiteren Vereinen wurden sie damit für Spielabsprachen und Erpressungen in den vergangenen Jahren bestraft – genau wie in der Chinesischen Wirtschaft ist im Sport die Korruption weit verbreitet. Jörg Albertz sagte nach seiner Rückkehr aus China damals: „Wir haben Tore kassiert, die eigentlich gar nicht möglich waren“. Die neue Regierung in Peking versucht jedoch schon seit geraumer Zeit der grassierenden Korruption im Lande Herr zu werden, für den Fußball heißt das: Mehrere (ehemalige) Nationalspieler sind genauso wie der WM-Schiedsrichter von 2002, Li Jun für je sechs Jahre ins Gefängnis gewandert, zwei ehemalige Verbandschefs für immer vom Fußball gesperrt und für fast ein Dutzend Vereine teils empfindliche Geldstrafen verhängt worden.
Besonders Augenfällig bei meinem zweiten Spiel war die veränderte Polizeistrategie. Keine wirklichen Personenkontrollen am Eingang, nur sehr wenig Ordnungskräfte und ein Kartenverkauf am Stadion. Diesen habe ich dann aber dennoch nicht genutzt, denn ich bekam wiederum auf dem Schwarzmarkt ein, um es mit den Worten von Vito Don Corleone zu sagen „Angebot, dass man nicht ablehnen kann.“. Eine VIP Karte für 80 statt 150 RMB. Irgendwie haben die Tickethändler in China das System des Kapitalismus noch nicht so ganz verstanden aber mir soll’s recht sein. Nun war ich also eine sehr wichtige Person für 10 Euro.
Diese sehr wichtige Person sah daraufhin sein, von der Stimmung her, bestes Spiel im Reich der Mitte. Eingeläutet durch eine unerwartete Pappchoreo zum 20jährigen Bestehen des Vereins – danach 90 Minuten Dauergesang der beiden Heimkurven, welche mit jeweils etwa 1.000 Leuten besetzt gewesen sein dürften. Auf der einen Seite die „Blue Boys“, gemäß ihrer Zaunfahnen im Jahr 2001 gegründet, auf der anderen Seite unter anderem die „Ultras“ und auch im Gästeblock waren wider Erwarten gut 150 Fans mit Fahnen anwesend. Bei einem Spiel Mittwochs Abends und bei einer Anreise von 2.144 km (Changchun mit seinen über 7 Millionen Einwohnern liegt in Nordostchina nahe der Grenzen zu Nordkorea und Russland) aller Ehren wert. Offiziell (das heißt laut Anzeigentafel) spielte hier im Hongkou Stadion vor gut und gerne 6.000 Zuschauern „Blue“ gegen „Red“. Fußball auf das Simpelste heruntergebrochen, da kann jeder folgen.
Ich weiß nicht was die beiden Gruppen, meist von einander unabhängig, gesungen haben, aber es hatte eine Menge Konsonanten und war meist auf alte Melodien aus Italien angelegt. Ergänzt durch die französische Nationalhymne, die Marseillaise, welche mehrere Male – natürlich mit anderem Text – intoniert wurde. Hin und wieder gab es auch laute Wechselgesänge, welche im recht leeren Stadion (36.000 hätten reingepasst) toll wiederhallten. Es war richtig cool die Ränge zu beobachten, das hatte ich so nun wirklich nicht erwartet.
Während die Gäste kurz davor waren, sich auf dem Feld wund zu liegen machte Shenhua das Spiel, war nur schlicht zu blöd und eigenwillig die Bude zu markieren. Dann, aus heiterem Himmel treffen die Nordlichter zum wenig umjubelten 0:1 und der Spaß hat vorübergehend ein Loch. Aber hey: We don’t make mistakes. We just have happy accidents! Der Ausgleich kam folgerichtig und so war die Schlussphase durchaus noch mal spannend, das ganze Stadion stand nun und häufig sang sogar die Tribüne mit. Kurz: Es machte richtig Spaß hier und als in der 89. Minute erst ein Gästespieler unberechtigt zum Duschen geschickt wurde und dann das 2:1 fiel drehten alle auf voller Breite frei – mein Lieblingsverein in China war gefunden. Als ich 20 Minuten nach Abpfiff äußerst zufrieden Richtung Ubahnstation ging, waren die Feierlichkeiten zum achten Tabellenplatz noch im vollen Gange.
Das dritte und letzte Spiel bedeutete nicht nur für mich das Ende, sondern auch für die laufende Saison der Chinesischen Super League. Letzter Spieltag und die Partie: Shanghai Shenxin FC – Tianjin Teda FC. Der Tabellenneunte gegen den 11, also weder spannend noch hochkarätig und so lässt sich auch wenig über die 90 Minuten erzählen. Wie in Peking gab es keinen Verkauf von Karten am Spieltag und so wurde wieder auf dem Schwarzmarkt zugeschlagen und eine fast 60 Euro teure VIP-Karte für 11 Euro erstanden. Das Preisgefälle wird von Spiel zu Spiel eklatanter. Auch Shenxin, der wohl kleinste der drei Shanghaier Erstligisten, hatte zwei Fangruppen, diese jedoch in der gleichen Kurve nur wenige Meter auseinander und oft mit den gleichen Gesängen. Die Gäste aus der Metropole Tianjin (in der Nähe von Peking und mit beeindruckenden 12,5 Millionen Einwohnern) waren mit einigen Bussen zum Spiel um die goldene Ananas angereist und ließen bis zum 0:1 durchaus mehrfach von sich hören und zeigten ein paar nette Schalparaden. Einzig erwähnenswert auf Heimseite war eine kleine Blockfahne zum Anpfiff. Ansonsten sahen etwa 4.000 Zuschauer ein langweiliges Spiel und ein wenig emotionales Publikum. Dafür gab es die große Überraschung dann nach dem Spiel. Die Fans standen an der Spielerausfahrt um dort noch gemeinsam mit der abrückenden Mannschaft zu feiern, als direkt neben der Polizeikette plötzlich ein Bengalo angerissen wurde und der Mob fröhlich ausrastete. Das alles wohl gemerkt ohne die geringste Reaktion der nebenstehenden Staatsbediensteten. Bei weitem das letzte, was ich erwartet hätte.
Die letzte Highlights der Reise waren dann kulinarischer Natur. Denn nachdem ich mir eigentlich vorgenommen hatte Hundefleisch zu probieren und erkennen musste, dass dies auch in weiten Teilen Chinas zumindest verpönt und sehr schwer zu finden ist, versuchte ich alles andere Ungewöhnliche. Die frittierten Skorpione waren dabei wohl das Außergewöhnlichste – doch auch diese sind in China eher Kuriosität denn Spezialität, wie die Reaktionen der Einheimischen zeigten, als mir diese doch recht fad schmeckenden Krabbeltiere gönnte.
Im Endeffekt hat mich diese Reise viel gelehrt: Die häufigsten Pauschalisierungen und Meinungen von China und den Chinesen sind kompletter Unfug. Das Leben der meisten Chinesen in den großen Städten unterscheidet sich kaum von dem in westlichen, nördlichen oder südlichen Großstädten dieses Planeten. Natürlich gibt es verrückte Eigenheiten, Negatives und Seltsames. Keine Frage aber das ist auch gut so, denn wenn es überall so wäre wie in Castrop-Rauxel, dann müsste man ja nicht mehr verreisen. Aber natürlich sind auch Sachen im Kopf geblieben, die nicht so gut gefielen. Als da wäre zu aller erst die permanente Überwachung genannt, ich denke dazu muss ich kein weiteres Wort verlieren. Auch die Hektik und vor allem die schier unglaublichen Menschenmassen fallen mir da ein. Es gibt nur wenige Rückzugsmöglichkeiten, wohin man mal flüchten kann, wenn einem alles zu viel wird. Grüne Parks gibt es nur wenige, ruhige Orte wo man mal allein sein kann noch weniger. Zum bereisen für eine gewisse Zeit ist China für mich ein wundervolles Land, welches noch eine Menge Sehenswürdigkeiten zu bieten hat. Um dauerhaft dort leben zu können hingegen fehlt mir wohl das notwendige dicke Fell und vor allem die Toleranz gegenüber einem totalitären Regime. Aber das macht ja auch nichts, erstens gibt es auf dieser Welt noch viele andere tolle Länder und zweitens gibt es dem Tag auch ein wenig Struktur, wenn man weiß wer der Gute und wer der Böse ist. Man darf dabei nur nicht den Fehler machen und Regierung und Land&Leute durcheinander bringen.
Dieser Text wurde in Blickfang-Ultra abgedruckt.